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»Aus dem Innersten der Gojim«

31.März 2009 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Eine Pessach-Predigt von Rabbiner Ernst M. Stein

≫Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Lande Mizrajim gefuhrt, aus dem Haus der Knechtschaft.≪ (Ex.20:2) Mit diesem Ausruf des Dekaloges sollte eigentlich eine Predigt zu Schawuot und nicht zu Pessach beginnen. Doch was ist Pessach verbundener denn der ≫Auszug aus Agypten≪. Auch wird durch diese Proklamation das Fundament Israels und des Judentums gelegt. Denn man kann Gott weder kennen, anerkennen noch folgen, wenn man nicht mit dem Bekennen und Bekenntnis beginnt, dass unser Leben, unsere Gegenwart wie der ganze Weg durch die Wirrnisse der Geschichte Zeugen sind fur Gott als Erloser.
Im Judentum beten wir Gott an, anerkennen Ihn als den Schopfer der Welt, des Alls, als Gott der Geschichte. Wir konnten nicht so von Gott sprechen, wenn wir nichts uber Schopfung und Offenbarung wussten und uber die erlosende Handlung des Auszuges aus Agypten. Gottes Akt der Erlosung, ein Geschehen, das mit Furcht und Ehrfurcht einflosenden Manifestationen umgeben und dennoch barmherzig war, druckt sich in den Eroffnungsworten der ≫Zehn Gebote≪ aus: ≫Ich bin der Ewige dein Gott, der dich aus dem Lande Mizrajim gefuhrt…≪. Wir wissen es also.
Der Auszug fuhrte Israel nicht nur in physische Freiheit, sondern zuruck zu Gott. Agyptens Einfluss auf Israel fand sein Ende. Doch einfach sind die Dinge leider nicht. Man kann sich nicht automatisch, uber Nacht, aus einer Zivilisation, in die man assimiliert und integriert war, loslosen und sofort eine eigene Zivilisation parat haben. Es ist immer ein erster Schritt notwendig, auf den andere folgen. Das wird von politischen Ideologien und ihren Ideologen, auch von unseren eigenen, wie dem Zionismus, nicht verstanden. So wird auf der judisch-politischen Ebene, um einer judischen Kultur oder eines starken Staates willen, ein Loslosen, ein Befreien aus den Zivilisationen der Nationen, der Gojim, verlangt.
Der Auszug aus Agypten war etwas ganz anderes, es war ein Entfernen von den falschen Gottern, es war ein in die richtige Perspektive Setzen der sakularen Werte, den Inhalten der Zivilisation, ohne sie dabei fur die existenziellen Notwendigkeiten zu negieren. Doch nur Weltliches gibt es auch nicht. Daher manifestierten sich, wie ein groses Erdbeben, die Verlangen des Exodus am Sinai. Der Berg in Rauch und Feuer bebend, das ist die Symbolik. An diesem Sinai, zu dem der Exodus fuhrte, an dem Gott sich offenbarte, auf den, wie die Bibel sagt ≫Gott herabstieg≪. Fur diesen Auszug musste sich Gott furchtbarer Dinge bedienen, wie wir lesen: ≫Versuchungen und Zeichen und Wunder und Krieg, da war die starke Hand, der ausgestreckte Arm und grose Schrecknisse.≪ (Deut. 4:34). Auch der Exodus unserer Generation war, um nur das Letztere zu nennen, voll der Schrecknisse; und hatte einen, seinen Berg, sechs Millionen Toter.
Dieser biblische Satz verkundet aber auch, dass durch den Auszug Gott sich ein Volk aus der Mitte der Volker genommen hat. Das hebraische Wort fur Volk, fur Nation ist ≫goj≪, auch diese israelitische Gemeinschaft, die Gott sich erkoren, wird ≫goj≪ genannt; doch wird von uns verlangt, ein ≫goj kadosch ≪, ein heiliges Volk, als Resultat des Eingreifen Gottes zu sein.
Es ist die Symbolik einer Operation, denn dieses ≫aus der Mitte der Volker≪ heist auf Hebraisch ≫mikerew≪, aus dem Innersten, dem Bauch, den Gedarmen. Wahrlich ein schmerzhafter Eingriff, mit dem Gott sein Volk herausschnitt. So wie aus der Rippe Adams sein Partner genommen wurde, so nahm Er sich seinen Partner aus dem Innersten der Gojim, der Nationen. Doch ein Schnitt trennt nur, er verandert keinen der Teile, das ist Beweis dafur, dass dieses Volk und die Nationen, aus denen es genommen, an der selben Menschheit teilhaben.
Franz Rosenzweig beantwortete die Frage, ob er, wenn er sich als deutscher Jude bezeichnet, den Akzent auf deutsch oder Jude legen wurde, etwa so: ≫Ich weigere mich zu antworten, doch wenn es geschehen sollte, dass man mich auf der Folterbank in zwei Stucke reist, ich dann wissen werde mit welcher Halfte mein Herz geht, da das Herz, ja nicht symmetrisch im Korper angeordnet ist≪; und er fugte hinzu: ≫Ich werde noch etwas wissen, namlich, dass ich diese Operation nicht uberleben wurde≪. Die judische Gemeinschaft, in ihrem Exodus des 20. Jahrhunderts, hat die Operation uberlebt, trotz aller Opfer.

»Aus dem Innersten der Gojim«

Gott, wieder als Chirurg der Geschichte, hat uns, das Judentum, von seiner Geschichte weg-, nicht abgeschnitten. Die deutschen Juden von der deutschen Geschichte, die Juden Osteuropas von der Geschichte Polens, Litauens, Russlands, ja, sogar die meisten sefardischen Juden von der Geschichte der islamischen Staaten. Es ist ein kulturhistorisches Ereignis auserordentlicher Grosenordnung. Der Weg Israels fur seine Entwicklung ist wieder freigegeben.
Die deutschen Juden, die Juden Deutschlands oder die judischen Deutschen hatten ihren kurzen Fruhling der Freiheit in diesem Land, es geschah durch das Eindringen befreiender, hier fremder Ideen. Doch schon nach kurzer Zeit kam der Ruckfall in das finsterste Mittelalter in seinen schlimmsten Formen. Aus diesem Mittelalter des 20. Jahrhunderts fuhrte der neue Exodus in eine neue Zeit. Erlosung offnet, ist das Tor zu einer neuen Geschichte. Exodus ist Fortschritt, im wahrsten und doppelten Sinn. Gott, heute wie damals, handelt fur diesen und in diesem Fortschritt, mit Versuchungen und Zeichen und Wundern und Krieg, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm und mit Schrecknissen.
Das deutsche Judentum war im und aus dem 19.Jahrhundert heraus bis zum Untergang ohne Zweifel die geistig fuhrende judische Gemeinschaft weltweit. Die geistige Arbeit, die hier geleistet wurde, war auserordentlich. Sie befruchtete das Judentum weltweit und schaffte die Existenz einer vitalen Basis fur den Fortbestand nach der Schoa. Das wird leider zu oft, auch bewusst, ubersehen.
Heute sind die kleinen Uberreste – das sind wir – des einstigen geistigen Riesen eine kleine Minderheit, beinahe Fremde, in ihren eigenen Gemeinden. Die ehrwurdigen, alten, lokalen Werte werden missverstanden, missachtet, belachelt, abgelehnt. Fehler, die gemacht wurden (nur wer aktiv ist, macht Fehler), werden zur Anklage verwendet, dass sich Juden hier zu eng mit dem Deutschtum identifiziert hatten, sich Deutsche nannten. Es ist leicht, mit dem Wissen um das Geschehene Vergangenes zu kritisieren.
Und, verliebt sich nicht jeder Jude in die Gojim, in deren Mitte er lebt? Englische Juden sind englischer als Englander. Jeder arrivierte Jude in Frankreich ist Patriot. Dort wo man die Moglichkeit bekommt, nimmt man Teil, wird man Teil, hat man Anteil.
Im Auszug aus Agypten war Gott nicht gegen Agypten, sondern gegen die ≫falschen Gotter≪, gegen Unterdruckung, gegen Missbrauch der Macht. Gott, der sich Israel zu seinem Dienst++ aus den Volkern erkoren, hasst die Gojim nicht.
Wir Israel, jetzt wir Juden, von Gott erwahlt, um anders zu sein als die Nationen, mussen dennoch mit und in ihnen leben. Um das zu ermoglichen, mussen sie sich andern, sie mussen die falschen Gotter ablegen, sie mussen zwischen weltlich und geistig unterscheiden. Sie mussen hier das werden, was sie sagen das sie sind, Christen, nicht Juden.
Die Welt, die Gott erschuf, ist nicht weltlich. Die menschengeschaffenen Zivilisationen sind weltlich und sie sind es, die falsche Gotter anbeten und das Anbeten falscher Gotter verlangen.
Wir kennen den Unterschied zwischen ≫kodesch wachol≪, zwischen heilig und profan. Profan bedeutet ≫alltaglich≪, das ist nichts Schlechtes. Doch ist es das Erkennen des Unterschieds, das dem Heiligen erlaubt, seinen Platz einzunehmen. Dieser Unterschied wurde durch den Akt des Auszuges aus Agypten proklamiert. Im Exodus wurde unser Weg zu Gott geleitet, zum Heiligen.
Das Alltägliche sind die Strukturen und Institutionen unserer Gemeinschaft. So wichtig sie auch sind, sind sie nicht das Wesentliche. Auch ist fur uns ein Heiligtum nicht nur ein Sakralbau, sondern eine intakte Familie, eine in Frieden mit sich lebende Gemeinschaft. Heilig ist nicht ein Altar, wir haben keinen, sondern der Tisch des Hauses, um den sich die Familie versammelt. Wichtig sind Menschen, deren Status nicht allein von Geld bestimmt wird, sondern durch Anstand und Wurde, Wissen und Selbstachtung. Nicht der Funktionar tragt das Judentum, sondern der Wissende und der sein Wissen Einsetzende. Wie wichtig dies den Weisen des Talmuds war, lesen wir im Traktat Horajot 13a: ≫Mamser talmid chacham; kodem lechohen gadol am haarez≪ – Ein gelehrter Mamser, und wir wissen was ein Mamser ist, hat den Vortritt vor einem ignoranten Hohepriester.
Liebe Freunde. Man stieg auf den Sinai, um Gott zu treffen, und Er stieg herab auf den Berg, ein schones Bild, vielleicht, um jede Ausrede, dass man Ihn nicht erreichen kann, auszuschliesen.
Aus Knechtschaft wurden wir gefuhrt, doch wohin wir gehen, wenn wir nicht gefuhrt werden, das ist die Frage, die das Pessachfest jedes Jahr erneut an uns stellt…
Diese Predigt basiert auf Gedanken meines verehrten Lehrers Rabbiner Ignaz Maybaum s.A. Sie erscheinen mir wichtig, nach vielen Jahren neu belebt zu werden.