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Awinu Malkeinu

05.Oktober 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage, jüdisches berlin

Rabbinerin Gesa Ederberg über eines der bewegendsten Gebete der Hohen Feiertage

Jom Kippur, der Versöhnungstag nähert sich. Seit Anfang des Monats Elul blasen wir täglich Schofar und fügen den 27. Psalm ins Gebet ein. Seit Rosch Haschana bitten wir darum, dass Gott sich an uns erinnern und uns ins Buch des Lebens einschreiben möge.
Schon wenn man an Jom Kippur die Synagoge betritt, bevor man überhaupt einen Machsor, ein Gebetbuch, aufgeschlagen hat, spürt man die Stimmung und den Charakter des Tages. Die Melodien, das Meer von weißer Kleidung, die Anstrengung des Fastens vermitteln die Konzentration und den Ernst des Gebetes an diesem Tag. Auch wenn man kein Hebräisch versteht und im Machsor, dem Gebetbuch für die Hohen Feiertage, hoffnungslos verloren geht, nimmt man so am Erleben der Gemeinde teil.
Am besten ist es natürlich, wenn man beides miteinander zu verbinden versteht: Mit dem Herzen den einzigartigen Geschmack dieses Tages zu spüren und mit dem Kopf die verschiedenen Elemente der Gebete zu verstehen.
Ein zentrales, immer wiederkehrendes Element von Jom Kippur bilden die Slichot und das Widui, die Bußgebete und das Schuldbekenntnis. Der bekannteste und auch bewegendste Text daraus ist wohl das Awinu Malkeinu – das übrigens nicht nur von Rosch Haschana bis Jom Kippur, sondern auch an Fasttagen während des Jahres gebetet wird.
Der früheste Hinweis auf dieses Gebet ist um das Jahr 200 n. d. Z. zu datieren und findet sich im Babylonischen Talmud (Taanit 25b), als Rabbi Akiwa bei einer großen Dürre um Regen fleht:
Awinu Malkeinu, chatanu lefanecha;
Awinu Malkeinu, ein lanu melech ela ata;
Awinu Malkeinu, rachem aleinu.
Unser Vater, unser König, wir haben vor dir gesündigt;
Unser Vater, unser König, wir haben keinen anderen König als dich;
Unser Vater, unser König, erbarme dich über uns.
Der Ursprung des Awinu Malkeinu aus einer Bitte in der Zeit der Not ist übrigens einer der Gründe, warum wir es an einem Jom Kippur, der auf Schabbat fällt, nur ein einziges Mal, während Ne’ila sagen.
Der Text von Awinu Malkeinu , wie er in unseren heutigen Machsorim steht, geht nur zum kleinen Teil auf Rabbi Akiwa zurück. In talmudischer Zeit wurden ja insgesamt nur die Struktur der Gebete und die Themen der einzelnen Abschnitte festgelegt. Jeder Vorbeter konnte dann das Thema variieren und seine eigenen Worte finden. Für eine Reihe von Texten finden wir im Talmud mehrere unterschiedliche Beispiele, wie einzelne Rabbinen das Thema konkret formuliert haben. Erst seit dem Mittelalter gibt es Gebetbücher, in denen der komplette Text der Gebete festgeschrieben ist.
In seiner ältesten Fassung, im Siddur von Amram Gaon, hat das Awinu Malkeinu 22 Verse, die nach dem Aleph Bet geordnet sind. In der sefardischen Tradition finden wir 29 bis 32 Verse, in der deutschen Tradition 38, in der polnischen 44, und in der griechischen sogar 53.
Allen gemeinsam sind Anfang und Ende – und auch die mittleren Verse, die je nach Gelegenheit variiert werden: während des Jahres bitten wir, »zu gutem Leben erinnert« zu werden – an den Jamim Noraim bitten wir darum, »in das Buch des guten Lebens eingeschrieben“ zu werden, und zu Ne’ila, am Ende von Jom Kippur, sogar »zu gutem Leben besiegelt« zu werden.
Im Awinu Malkeinu wenden wir uns als Gemeinde in doppelter Weise an Gott: an Gott als Vater und an Gott als König. Von einem Vater erwarten wir Liebe und Zuneigung und selbstverständlicherweise nur Gutes, selbst wenn wir Fehler gemacht haben. Dabei muss übrigens betont werden, dass es um ein ideales Vaterbild geht – und dass das Vorbild nur begrenzt menschliche Väter sind, die ihren Kindern ja durchaus auch Unrecht tun und für die wir oft zwiespältige Gefühle haben!
Auch beim »König« ist an einen idealen König gedacht, dem die Sorge um seine Untertanen am Herzen liegt, und der sie jederzeit gerecht behandeln wird. Gerechtigkeit, also auch die Gerechtigkeit Gottes, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es klare Regeln gibt, nach denen geurteilt wird und dass die konkreten Umstände, wie es zu Fehlern und Verstößen kam, mitbedacht werden. Doch zur Gerechtigkeit gehört eben auch die »gerechte Strafe«, durch die Ordnung wieder hergestellt wird.
Dem gegenüber ist die elterliche Liebe bedingungslos, ein festes Fundament der Zustimmung und des Angenommenseins, von dem aus wir die Fähigkeit zum Handeln – und eben auch zum Fehlermachen – erst gewinnen können. Beides ist also nötig, Gerechtigkeit und bedingungslose Liebe, um Beziehungen gestalten zu können, um ein gelungenes Leben zu ermöglichen.
Unsere Tradition ist sich dessen sehr bewusst, dass das Fehler machen, dass absichtliches oder versehentliches, menschliches Versagen zum Leben dazu gehört. Das ist es, was sie mit »Sünde – Chet« bezeichnet. Jom Kippur ermöglicht uns, neu anzufangen, Fehler zu korrigieren – oder, wenn das nicht möglich ist, trotzdem weiter zu leben. Entscheidend ist dabei, sich selbst und anderen bewusst zu machen, dass Falsches, dass Unrecht geschehen ist.
Diese Einsicht wird im ersten und im letzten Vers von Awinu Malkeinu ausgedrückt und bildet so einen Rahmen: Chatanu lefaneicha – wir haben vor dir gesündigt und ki ein banu ma’asim – denn wir haben keine (guten) Taten (vorzuweisen).
Rabbi Uziel Meisels, ein chassidischer Gelehrter im 18. Jahrhundert und ein Schüler des Maggid von Mezhirech, verknüpfte die fünf Bitten in der Mitte des Awinu Malkeinu, ins Buch des Lebens geschrieben zu werden, mit den fünf Bücher der Tora: Die erste Bitte »Schreibe uns in das Buch des guten Lebens« entspricht dem Buch Bereschit, in dem von der Erschaffung des Lebens gesprochen wird.
Die zweite »Schreibe uns in das Buch der Befreiung und Rettung« entspricht dem Buch Schemot, das von der Befreiung aus Ägypten spricht.
Die dritte »Schreibe uns in das Buch der Ernährung und Erhaltung« entspricht dem Buch Wajikra, das von den Opfern und Dankesgaben im Tempel spricht, denn die Grundlage menschlicher Existenz muss in der Heiligkeit liegen.
»Schreibe uns in das Buch der Verdienste« entspricht dem Buch Bamidbar, das von den zwölf Stämmen spricht, die jeweils treu zu ihren Wurzeln – den Erzeltern – waren, aufgrund deren Verdienste wir leben.
»Schreibe uns in das Buch der Verzeihung und Vergebung« entspricht dem Buch Dewarim, in dem Mosche Rabbenu Israel wegen seiner schlechten Taten ermahnt und in dem der Schriftabschnitt Tschuwa (Buße) steht, aufgrund dessen wir Vergebung und Versöhnung verdienen.
Dass wir Awinu Malkeinu nicht als Einzelne sprechen, sondern als Gemeinschaft vor dem offenen Toraschrein weist darauf hin, dass wir füreinander verantwortlich sind: Die Tora haben wir am Sinai als Gemeinschaft empfangen und angenommen. So trifft uns auch unser Versagen, Gottes Willen zu tun, seine Gebote zu erfüllen, ebenso als Gruppe.
Ich wünsche allen Mitgliedern unserer Gemeinde und ihren Familien nah und fern, wie auch allen Juden in der Welt, dass sie Jom Kippur erleben als einen Tag der Einkehr und Umkehr und der Befreiung von allem, was sie belastet. Schana Towa und Gmar Chatima Towa – Ein gutes Jahr und eine gute Besiegelung im Buch des Lebens!

Awinu Malkeinu