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Das Gift wirkt weiter

01.Dezember 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur

Die ungerechtfertigte Diffamierung des sowjetischen Autors Ilja Ehrenburg in der Debatte um die Verfilmung des »Anonyma«-Tagebuchs

Es ist kein Satz, mit dem man sich für den Friedensnobelpreis qualifiziert: »Wenn du nicht im Laufe eines Tages wenigstens einen Deutschen getötet hast, so ist es für dich ein verlorener Tag gewesen.« Dieser Satz geistert seit der Debatte um die Verbrechen sowjetischer Rotarmisten an deutschen Frauen, die Max Färberböcks Verfilmung des anonymen Tagebuches einer deutschen Journalistin von 1945 ausgelöst hat, durch die Feuilletons. Sein Urheber, der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, erscheint darin meist als Kriegshetzer und Rachegott, der auch zur Vergewaltigung deutscher Frauen aufgerufen hat. Das ist falsch.
Hier wirkt noch immer die Nazipropaganda nach, die 1944 einen entsprechenden Aufruf Ehrenburgs schlicht erfunden hatte, um die deutsche Zivilbevölkerung gegen die näher rückende Rote Armee in Position zu bringen. Ehrenburg, der für die sowjetische Armeezeitung »Krasnaja Svjeda«, aber auch für die französische »La Marseillaise« oder die US-Agentur »United Press« schrieb und in seinen Texten für unser heutiges, in über 60 Jahren Frieden entwickeltes ziviles Empfinden gelegentlich auch Schmerz- und Geschmacksgrenzen überschritt, ließ sich außerdem ideal für das Feindbild des blutrünstigen jüdischen Bolschewiken verzerren und instrumentalisieren, weshalb die Nazipropaganda von ihm gern auch als »Stalins Hausjuden« sprach.
Längst ist jedoch von Historikern belegt, dass es einen Vergewaltigungsaufruf Ehrenburgs nie gegeben hat. Die vermeintlichen Zitate, die mitunter auch als »Tagesbefehl« durch die Presse geistern (als hätte ein Schriftsteller im Krieg Befehlsgewalt) sind ausschließlich Nazipropaganda, anders als der anfangs zitierte Satz aus Ehrenburgs Text »Töte!« vom Juni 1942, dessen Entstehungskontext allerdings bei seiner Beurteilung im Auge zu behalten ist: der Sommer 1942 nämlich, als die Wehrmacht, ein Jahr nach ihrem Überfall, auf dem Weg ins Innere der UdSSR Städte und Dörfer dem Erdboden gleich gemacht und an der Bevölkerung unvorstellbare Verbrechen begangen hatte – wie das Massaker von Babi Jar im September 1941, als Einheiten des Sicherheitsdienstes unter dem Kommando des 6. Heeres in 36 Stunden 33000 Menschen erschossen. In Kiew, deren jüdische Bevölkerung in Babi Jar ausgerottet wurde, war Ehrenburg 1891 geboren worden.
Das Massaker von Babi Jar steht auch am Anfang eines Berichts über die Verbrechen der Wehrmacht, den Ehrenburg 1941 zusammen mit Wassili Grossman begonnen hatte – eine über tausendseitige Sammlung von Zeugenaussagen zum Genozid. Das »Schwarzbuch« ist der erste Bericht über die Schoa überhaupt; es nennt exakte Daten von Mordaktionen, dokumentiert akribisch Namen von Opfern und Mördern. Zu den Initiatoren gehörte Albert Einstein – doch zu der geplanten Publikation in den USA und der UdSSR kam es nicht. Die Redaktion wurde im Zuge stalinistischer Säuberungen zum Teil ermordet. Erst 1994 ist es vollständig publiziert worden.
Der deutsche Vernichtungskrieg war kaum geeignet, humanistische Gefühle zu aktivieren. Doch längst nicht alle Kriegsartikel Ehrenburgs sind vom Hass geprägt, der im Übrigen nie auf Zivilisten oder Kriegsgefangene zielte. »Nicht dazu haben wir unsere jungen Männer erzogen, dass sie auf das Niveau hitlerscher Vergeltungsmaßnahmen herabsinken. Niemals werden Rotarmisten deutsche Kinder ermorden, das Goethehaus in Weimar oder die Bibliothek von Marburg in Brand stecken. Rache ist Zahlung in gleicher Münze, Rede in gleicher Sprache. Aber wir haben keine gemeinsame Sprache mit den Faschisten«, schrieb Ehrenburg im Artikel »Rechtfertigung des Hasses«, der ebenfalls 1942 in der »Krasnaja Svjeda« erschien. Hier spricht kein Racheprediger, sondern ein bis ins Innerste verletzter Bildungsbürger, der die Zerstörer seines Landes und seines Weltbildes zur Rechenschaft gezogen wissen will.

Esther Slevogt

Das Gift wirkt weiter