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Die Gabe der Tora am Sinai

01.Mai 2021 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Gedanken von Gemeinderabbinerin Gesa Ederberg zu Schawuot

Schawuot ist eines der drei biblischen Feste, die als Chagim oder Regalim bezeichnet werden, oder auf deutsch »Pilgerfeste«, da zu biblischen Zeiten eine Reise nach Jerusalem zum Tempel ein Teil des Feiertagsgebots war.
Im Gebet und auch z.B. im Birkat Hamason, dem Tischgebet, wird Schawuot als »Sman Matan Toratenu« – die Zeit der Gabe unserer Tora bezeichnet (so, wie Pessach da »Sman Cherutenu«, die Zeit unserer Freiheit, und Sukkot »Sman Simchatenu«, die Zeit unserer Freude heißt).
Wir feiern die Gabe der Tora am Berg Sinai, und dieser Moment wird in den biblischen Geschichten und den späteren rabbinischen Midraschim sehr anschaulich und dramatisch beschrieben, mit Donner und Stille.
Dabei wird fast vergessen, dass es so einfach gar nicht war, man könnte fast sagen, beinahe wäre es schief gegangen: Während Mosche auf dem Berg Sinai war, 40 Tage lang, verloren die Kinder Israels die Geduld, und in ihrer Verzweiflung machten sie sich einen Ersatzgott, ein goldenes Kalb, das sie anbeteten. Und als Mosche zurück kommt von der einzigartigen Begegnung mit Gott, und damit rechnete, das Volk Israel würde die Heiligkeit dieses Moments mit ihm teilen, aber sieht, dass sie eben nicht gewartet haben, verliert er die Geduld und zerschmettert die Tafeln des Bundes, die Gott selbst geschrieben hatte. Ist das Volk überhaupt würdig, dass Gott mit ihm einen Bund schließt? Dass Israel auserwählt und Gottes Partner wird? Diese Frage muss sich Mosche gestellt haben, bevor er wieder umdrehte und ein zweites Paar Tafeln schnitt und beschrieb. 
Die Tora beschreibt anschaulich die Angst der Kinder Israels vor der Stimme Gottes – sie wollen nicht direkt hören, was gesagt wird, sondern lieber, dass Mosche eine Aufgabe als Vermittler übernimmt. Doch gleichzeitig betont unsere Tradition immer wieder, dass wir eben gerade keinen Vermittler brauchen, sondern Jeder und Jede sich selbst mit der Tora auseinandersetzen soll. Genau das steckt auch in der Bezeichnung »Sman Matan Toratenu« – die Zeit der Gabe unserer Tora. Sie ist eigentlich ziemlich überraschend, denn wir würden doch denken, dass es darum geht, dass wir Gottes Tora, Gottes Lehre und Anweisung, erhalten, und nicht unsere eigene! Doch die Midraschim, die rabbinischen Auslegungen der biblischen Texte, betonen genau das: Die Tora gehört jedem von uns. Ein Midrasch erklärt: »Alle, die ihr heute am Berg Sinai steht« – das bezieht sich nicht nur auf die Kinder Israels jener Generation, sondern auch alle zukünftigen Generationen standen am Berg Sinai, um die Tora zu empfangen. So wie die Tora aus 600 000 Buchstaben geschrieben ist, so hat sie sich in 600 000 einzelne Lehren zerteilt – Jeder und Jede, die dort standen, haben die Tora in einer einzigartigen Weise »empfangen« und begriffen. Und nur die Summe dieser Vielfalt ergibt wiederum das Ganze der Tora.
Was damals am Berg Sinai wirklich geschehen ist, ist dabei nicht die entscheidende Frage. Schon im 11. Jahrhundert schreibt der Philosoph Maimonides: »Es ist sehr schwer, eine wirkliche Vorstellung der Ereignisse am Sinai zu gewinnen, denn nie hat sich etwas Vergleichbares ereignet, noch wird es sich je wieder ereignen.«Und: »Wir glauben … dass die Tora Mosche von Gott her in einer Art erreichte, die von der Schrift bildlich durch den Ausdruck ‚Wort’ gekennzeichnet ist, und dass außer Mose selbst, zu dem das Wort kam, niemand je erfahren hat, wie es wirklich vor sich ging.« 
Obwohl das »Empfangen« und Weitergeben das Entscheidende ist, heißt das Fest nicht »das Empfangen der Tora«, sondern »die Gabe« – fast als ob wir uns zwar immer sicher sein könnten, dass Gott die Tora gegeben hat, aber nicht unbedingt, ob wir das mit dem Empfangen auch wirklich richtig machen. 
Beim ersten Mal ist es ja auch gründlich schief gegangen. Deshalb ist die Tradition entstanden, sich intensiv auf das Empfangen der Tora vorzubereiten, indem man die ganze Nacht vorher lernt, um dann morgens so früh wie möglich Schacharit, das Morgengebet, zu beten. Dieser »Tikkun Leil Schawuot« soll ausgleichen, dass die Kinder Israels am Berg Sinai eben nicht wirklich bereit waren, die Tora und die daraus entstehende Verantwortung zu übernehmen.
Um noch einmal auf die 600 000 Stimmen zurückzukommen: Die Heiligkeit der Tora zeigt sich eben gerade nicht darin, dass wir alle den Text gleich verstehen und die gleichen Lehren für unser Leben und Handeln daraus ziehen. Die Heiligkeit der Tora zeigt sich darin, dass wir zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, dass die eine Stimme Gottes vielstimmig wird, wenn es darum geht, sie in unser Leben zu integrieren. Es ist unsere Aufgabe, unsere Unterschiedlichkeiten wertzuschätzen und die jüdische Vielfalt zu feiern. 

• Schawuot findet genau 49 Tage nach Pessach statt, diese sieben Wochen der Omer-Zeit werden an jedem Abend feierlich gezählt. Dieses Jahr beginnt Schawuot am 16. Mai abends. 
• An Schawuot ist es üblich, Milchspeisen zu essen, Blintzes, Käsekuchen, Burekas und anderes, da das Volk Israel am Berg Sinai wie neugeborene Kinder waren, die sich von Milch ernähren.
• Die Nacht von Schawuot verbringt man mit dem Studium der Tora, dem »Tikkun Leil Schawuot«.
• In der Synagoge wird am Morgen ein langes aramäisches Gedicht gelesen, die »Akdamut«, in der die Einzigkeit Gottes und der Tora gepriesen werden.

Die Gabe der Tora am Sinai