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»Ein Vorspiel nur«

01.November 2008 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken

2008 jährt sich zum 70. Mal der antijüdische Terror der Nationalsozialisten im November 1938

Seit Ende der 1920er Jahre sahen sich die deutschen Juden mit einer Welle antisemitischer Angriffe konfrontiert. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde Antisemitismus Teil der Regierungspolitik. Gesetze und Verordnungen leiteten den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausschluss der deutschen Juden ein.
Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 markierte den Auftakt zu einer radikalen Verschärfung dieser Politik. SA- und SS-Männer sowie Polizeiangehörige plünderten Wohnungen und Geschäfte. Die Gestapo führte Massenverhaftungen durch, NSDAP-Anhänger demütigten Juden öffentlich. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der als Gauleiter der Hauptstadt einen eigenen Vertreibungsplan gegen die Berliner Juden verfolgte, heizte im Juni 1938 die Stimmung weiter an. Die Sicherheitspolizei nahm in mehreren Großstädten etwa 2500 Juden fest, die in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt wurden. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht befanden sich die deutschen Juden in großer Bedrängnis: Ihre Läden wurden boykottiert und die NSDAP-Gauwirtschaftsberater erzwangen fortlaufend Geschäftsübernahmen durch Nichtjuden. Bis Anfang 1938 mussten 60 bis 70 Prozent der jüdischen Firmeninhaber aufgeben.



Konditorei und Café Hirsch, Schönhauser Alle 21, Juni 1938. Foto: Neue Synagoge Berlin – Centrum JudaicumMöbelhaus A. Brünn jr., Berlin-Weißensee, Berliner Allee 29–31, Juni 1938. Foto: Neue Synagoge Berlin – Centrum JudaicumIn Berlin gelang es zwei jüdischen Jungen, David Zwingerman (heute Hamilton, r.) und Horst Löwenstein (M.), zwölf Tora¬rollen aus der ausgebrannten Synagoge Markgraf-Albrecht-Straße zu retten. Sie brachten sie zu einem jüdischen Teeimporteur englischer Herkunft (l.) und gaben sie später der Jüdischen Gemeinde zurück. Foto: D. Hamilton, London/ Centrum Judaicum

Mit dem Befehl Heinrich Himmlers, polnische Juden auszuweisen, trat die Verfolgungspolitik ab Oktober 1938 in eine neue Phase. Bis zu 18 000 Menschen wurden in das deutsch-polnische Grenzgebiet gebracht, wo sie wochenlang ausharren mussten, da ihnen Polen die Einreise verweigerte. Ein Angehöriger von Verschleppten, Herschel Grynszpan, erfuhr in Frankreich von der Deportation. Kurz darauf, am 7. November, verübte der 17-Jährige ein Attentat auf Ernst vom Rath, einen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Paris. Ein geeigneter Vorwand, um auch offiziell und radikal gegen Juden vorzugehen. Schon ab dem 7. November begannen in Nordhessen und Mitteldeutschland Ausschreitungen.
Am Nachmittag des 9. November 1938 verstarb vom Rath. Ab 22.30 Uhr gaben Partei- und SA-Führer die Weisung zur Zerstörung von Synagogen, Wohnungen und Geschäften an ihre lokalen Dienststellen aus. Innerhalb weniger Stunden waren tausende Mitglieder mobilisiert und begannen ihr Verwü-stungswerk. Ab Mitternacht erließen u.a. Gestapochef Heinrich Müller und der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich weitere Befehle, die zur Festnahme von bis zu 30 000 vor allem vermögenden Juden führten.
Den am Morgen des 10. November 1938 alarmierten jüdischen Gemeinden wurde rasch klar, dass es sich um systematischen Terror handelte, der sich gegen Männer, Frauen und Kinder richtete und auch vor Waisenhäusern und Altersheimen nicht Halt machte. Für die Meisten war der Einbruch offener Gewalt in ihr Leben in dieser Form nicht vorstellbar gewesen. Auch wenn die deutschen Juden in den fünf Jahren der bisherigen NS‑Herrschaft viele beklemmende Situationen durchlebt hatten, war ihr Dasein bislang von ansatzweise berechenbaren staatlichen Entscheidungen bestimmt gewesen. Nun verweigerten die Polizei und selbst die Feuerwehr meist jegliche Hilfe. Im Gegenteil: Der Polizeiapparat war für die Massenverhaftungen verantwortlich.
Während in den Großstädten noch Aussichten bestanden, Rückzugsmöglichkeiten zu finden, gerieten Angehörige der vielen hundert Landgemeinden in fast völlige Isolation von der nichtjüdischen Umwelt. Auch tausende Geschäfte, deren Besitzer als Juden galten, wurden zum Ziel von Verwüstungen. Wie die Synagogenbrände zogen die zerstörten Schaufensterfronten viele Schaulustige an. Vor allem auf dem Land war der Übergang vom Zusehen zur Beteiligung an Zerstörungen oder Demütigungen fließend. Allerdings sind auch Berichte über Bekundungen von Mitleid und solidarisches Verhalten überliefert. Einzelne Nichtjuden boten Verfolgten Unterkunft oder traten Zerstörungstrupps entgegen.
Zwei Tage nach den Gewaltakten erließ die Reichsregierung eine Verordnung, die Juden den weiteren Betrieb von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben verbot. Zugleich mussten die deutschen Juden eine Sühneleistung von letztlich 1,126 Milliarden Reichsmark aufbringen und das Straßenbild wiederherstellen.
Das Aufbrechen ihrer Wohnungen am 10. November 1938 markierte für jüdische Männer, Frauen und Kinder den Beginn von Demütigungen und – oft tödlichen – Misshandlungen. Wie schon nach dem Anschluss Österreichs im März mussten viele Festgenommene am 10. November sportähnliche Freiübungen abhalten – eine Form der Erniedrigung, die auch in Konzentrationslagern zum Alltag gehörte. In einigen Städten wurden jüdische Männer gezwungen, Züge zu formieren und Schilder mit entwürdigenden Aufschriften zu tragen oder, wie im schlesischen Trebnitz, an Kuhketten gebunden hinter einer Musikkapelle herlaufen. In Leipzig wurden jüdische Frauen und Kinder in Todesangst versetzt, indem man sie in einen Fluss trieb, dessen Tiefe sie nicht kannten. Bis zu 100 Juden kamen bei den Überfällen ums Leben oder erlagen danach ihren Verletzungen. Das Ausmaß der Gewalt zeigte bereits in den Morgenstunden des 10. November 1938, dass der von Goebbels ergangene Zerstörungsbefehl einer Ermächtigung zum Töten gleichkam.
Den ersten Demütigungen folgte häufig der Aufenthalt in Gefängnissen oder provisorischen Haftstätten. Viele Gefangene waren schweren Torturen ausgesetzt. Für einen Teil, etwa 30 000 jüdische Männer, begann ein teilweise mehrmonatiger Leidensweg, der nicht selten tödlich endete: Aus allen Teilen des Deutschen Reiches wurden sie in die Konzentra¬tionslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau verschleppt. Stundenlanges Stehen, Folter und katastrophale hygienische Bedingungen bestimmten die Haftzeit. Allein in Buchenwald starben 233 Häftlinge. Nach einigen Wochen entließ die SS einen Teil der Inhaftierten, wenn sie nachweisen konnten, dass ihre Auswanderung bevorstand. Den Freigelassenen wurde auferlegt, über das Erlebte zu schweigen.
In den Monaten nach Ende der Terrorwelle wurde für die im Reich verbliebenen Juden immer spürbarer, dass sie nunmehr in erster Linie als Polizeiproblem galten. So stand auch der Dachverband der jüdischen Gemeinden, der seit Juli 1939 Reichsvereinigung der Juden in Deutschland hieß, unter Kontrolle des SS-Reichssicherheitshauptamtes bzw. der Gestapo. Am 29. Oktober 1939 – dem Tag, an dem sich nach jüdischem Kalender der Novemberterror zum ersten Mal jährte – trat eine kleine Gruppe Berliner Juden in der Alten Synagoge zu einem Gedenkgottesdienst zusammen. Acht Wochen zuvor hatte mit dem deutschen Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg begonnen. Der Kriegsbeginn und die Eroberung weiter Teile Europas in den folgenden Jahren bildeten den Auftakt für eine umfassende Vernichtungspolitik, der bis 1945 um die sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Unter ihnen waren etwa 65 000 österreichische und bis zu 165 000 deutsche Juden.

Wir danken Andreas Nachama, Uwe Neumärker und Hermann Simon für die Abdruckgenehmigung dieses (gekürzten) Beitrages aus dem von ihnen herausgegebenen Katalog zur Ausstellung »Es brennt! Antijüdischer Terror im November 1938« der Stiftungen »Topographie des Terrors«, »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« und »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum«.
Die Ausstellung (Eröffnung: 6.11. 17 Uhr) ist bis Februar im Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 29, zu sehen (So–Do 10–18 Uhr, Fr 10–14 Uhr). Sie zeigt bisher wenig bekannte Fotografien von 1938/39 und präsentiert in Audiostationen frühe biografische Zeugnisse deutscher Juden im November 1938.