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Halle – Und was nun?

29.Oktober 2019 | Beiträge – jüdisches berlin | Gesellschaft

Ein Kommentar des Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde

Es ist an dieser Stelle zu früh, einschätzen zu können, welche Auswirkungen die Ereignisse der letzten Wochen haben werden. Was jedoch bleibt, ist eine wachsende Verunsicherung. Was bleibt denn hängen? 

Trotz aller Solidaritätskundgebungen – die Aussagen nach dem Terroranschlag von Halle waren ernüchternd. Bundespräsident Steinmeier meinte, ein Angriff auf eine Synagoge sei für ihn »unvorstellbar« gewesen. Da fragt man sich, warum alle jüdischen Einrichtungen seit Jahrzehnten geschützt werden müssen. CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer sprach von einem »Alarm«. Hat sie nicht die Warnungen gehört, die von jüdischer Seite seit Jahren übermittelt wurden? SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte dem »Spiegel«: »Wir haben nicht gesehen, was sich am rechten Rand wieder zusammenbraut«. Ist vielleicht ein Wechsel des Augenarztes angebracht? 

Bundesinnenminister Seehofer will Polizei und Verfassungsschutz stärken, gleichzeitig baut Bundesfamilienministerin Giffey Präventionsprogramme zur Deradikalisierung ab. So stehen zu Redaktionsschluss Projekte der Amadeu Antonio Stiftung oder von Ahmad Mansour auf der Kippe. Dabei ist es essentiell, der Radikalisierung vorzubeugen. Nein, die Bundesregierung erweckt nicht den Eindruck, als ob sie ein schlüssiges, über die einzelnen Fachressorts hinausgreifendes, Konzept hat. 

Um Antisemitismus entgegenzutreten, braucht es im gleichen Maße Prävention, Intervention und Repression. Es sind verschiedene Ebenen, die angepackt werden müssen: 

Das in Schulen derzeit vermittelte Wissen über Judentum, Juden in Deutschland und Israel, ist – freundlich ausgedrückt – dürftig und zumindest bzgl. Israel, einseitig. Hier ist eine umfassende Wissensvermittlung erforderlich, auch über die Genese und die Ausdrucksformen des Antisemitismus. 

Deradikalisierung und Vorbeugung sind nicht nur »Modellprojekte« für zwei oder drei Jahre, sondern müssen verstetigt werden. Menschen werden nicht als Antisemiten geboren, sondern legen »einen langen Weg zur dunklen Seite« zurück. Hier ist stetige Arbeit erforderlich, um eben Radikalisierungen entgegenzuwirken. 

Unverständlich sind die durchweg sehr milden Urteile bei antisemitischen Delikten, die signalisieren, dass Judenhasser mit keinen ernsthaften Sanktionen zu rechnen haben. Dabei steht der Justiz bereits heute mit § 46 (2) StGB, wonach menschenverachtende Gesinnung strafverschärfend ist, eine Regelung zur Verfügung. Sie muss nur angewandt werden. 

Nur wenige versuchen, Antisemitismus in seiner Komplexität zu erfassen. 

Im Laufe der Jahrhunderte ist ein Mythenkomplex entstanden, der bis in die Gegenwart bestand hat und im kollektiven Gedächtnis Europas verhaftet ist. Wir finden den alten Judenhass des Mittelalters heute als »Kindermörder Israel« oder »Rothschilds« wieder und Luther war der Prototyp des modernen Antisemiten. Antisemitismus gehört zur kulturellen DNA Europas. 

Antisemitismus ist auch keine Unterform des Rassismus. Denn im Gegensatz zu letzterem ist der Antisemitismus janusköpfig: Zum einem werden Juden als »minderwertig« angesehen, andererseits wird ihnen unterstellt, die Medien, die Regierungen, das Geld zu kontrollieren. Dagegen, so das antisemitische Narrativ, müsse man sich wehren – der Antisemit geriert sich zum Opfer. 

Nicht zuletzt mutiert das Chamäleon Antisemitismus zum Antizionismus, mit dem der offene Judenhass über diesen Umweg eine neue Ausdrucksform findet.

Deswegen greift es viel zu kurz, dass in den letzten Wochen fast nur von Rechtsextremen gesprochen wurde. Wir finden Antisemitismus bei Linksextremisten und Islamisten, weite Kreise der Mehrheitsgesellschaft verbrämen ihn als »Israelkritik«.

Wenn man Antisemitismus angehen will, muss das viel umfassender geschehen, als dies bisher der Fall ist. Und neben den genannten Punkten müsste auch in der Außenpolitik Zeichen gesetzt werden. Die libanesische Terrororganisation Hisbollah in ihrer Gesamtheit als terroristisch einzustufen und zu verbieten, so wie es Großbritannien, Niederlande, USA und Kanada bereits geschehen ist, wäre ein guter Anfang.


Sigmount A. Königsberg

Halle – Und was nun?