Beitragssuche

Datum / Zeitraum:
Beitragsart:
Kategorie:

Jüdische Perspektiven auf den Prozess von Halle

01.Januar 2021 | Beiträge – jüdisches berlin | Gesellschaft


Wahrscheinlich wird der Attentäter von Halle verurteilt sein, wenn Sie diese Ausgabe des »jüdischen berlins« in den Händen halten. Was hat dieser Prozess gezeigt? 
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, bewertete die Anklage wie folgt: »(...) für mich ist die Anklageschrift nicht vollständig. Was wusste seine Familie von seinen Einstellungen und seinen Plänen? Vielleicht wusste seine Mutter nicht, dass er am 9. Oktober diesen Anschlag begehen wollte, aber sie wusste sicherlich, welche Einstellungen ihr Sohn hatte.«
Die wichtigste Schlussfolgerung dieses Prozesses ist: Das Märchen vom »einsamen Wolf«, der völlig abgeschnitten von allen Anderen agiert, muss endgültig beerdigt werden. Doch dies ist nicht den Behörden, nicht der Bundesstaatsanwaltschaft, nicht dem Bundeskriminalamt und nicht der sachsen-anhaltinischen Polizei, sondern der akribischen Arbeit der Nebenkläger*innen zu verdanken.
Im Zuge des Prozesses wurde deutlich, wie die Behörden Opfer hierarchisieren. Neben den Ermordeten, Jana L. und Kevin S., versuchte der Täter, weitere Menschen zu ermorden. Während die Staatsanwaltschaft die Schüsse auf Polizisten sofort als versuchten Mord ansah, wurden diejenigen, die im Döner-Imbiss angeschossen wurden, Adiraxmaan Aftax Ibrahim und Ismet Tekin, nicht als Opfer eines Mordversuches angesehen. Diese Ungleichbehandlung der Opfer legt eine Debatte über strukturellen Rassismus in Deutschland nahe. 
Man muss sich auch die Frage stellen, warum die Online-Aktivitäten von Extremisten, so auch die des Attentäters von Halle, bisher vom Bundeskriminalamt anscheinend nicht mit der nötigen Intensität verfolgt wurde. Die Gerichtsaussagen der eingesetzten Beamtin offenbarten, dass es da beim BKA Nachholbedarf gibt.
Nicht auf Initiative der Behörden oder der Staatsanwaltschaft, sondern auf Antrag der Nebenkläger*innen, wurden externe Sachverständige, z.B. der Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Benjamin Steinitz, gehört. Diese Expert*innen erläuterten das Zusammenwirken verschiedener Formen der Radikalisierung sowohl online als auch offline. So könne das Attentat von Halle nicht losgelöst von anderen rechtsterroristischen Anschlägen, wie dem von Christchurch, gesehen werden, aber auch das soziale Milieu sei dafür mitverantwortlich. Nicht zu vergessen sei das gesamtgesellschaftliche Umfeld, in dem Antisemitismus zumindest bagatellisiert, wenn nicht gar negiert wird und Rassist*innen als »besorgte Bürger« verharmlost werden. 
Die Überlebenden des Anschlags haben mit ihrem Auftreten und ihren Aussagen in diesem Prozess zudem starke Signale der Resilienz an die gesamte jüdische Gemeinschaft gesendet. Die Opferrolle wurde nicht angenommen, sondern, wie eine Überlebende des Attentats es vor Gericht ausdrückte: »Er (der Attentäter) hat sich mit den Falschen angelegt. Er hat sich mit der falschen Person angelegt, mit der falschen Familie, mit den falschen Menschen« und Rabbiner Jeremy Borovitz, der beim Programm »Base Berlin« von Hillel Deutschland arbeitet, ergänzte: »Jüdisches Leben wird wachsen. Ich habe keine Angst. Wir sind laut und werden gehört«.
Sigmount Königsberg  

Jüdische Perspektiven auf den Prozess von Halle