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Neubeginn und Versöhnung

01.September 2007 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Erläuterungen zu Rosch Haschana und Jom Kippur von Rabbiner Prof. Dr. Andreas Nachama

Am 12. September abends beginnt das Jahr 5768. Nicht genug damit, dass unser Neujahrsfest mitten im bürgerlichen Jahr liegt, es fällt auch im Jüdischen Kalender auf den Beginn des siebenten Monats. Nicht mit Feuerwerk oder knallenden Sektkorken, wie die nichtjüdische Umwelt die bösen Geister vom Beginn des neuen Jahres vertreibt, begrüßen wir das neue jüdische Jahr, sondern mit Gebeten in der Synagoge und mit Bußtagen, die ihren Höhepunkt zehn Tage später finden – am Versöhnungstag.


Drei Bücher werden zu Rosch Haschana im himmlischen Gerichtssaal aufgeschlagen: das Buch der vollkommenen Gerechten, das Buch der Mittelmäßigen und das Buch der Bösen. Die Gerechten werden auf der Stelle zum Leben für das nächste Jahr eingetragen. Die Bösen werden sogleich als dem Tod Geweihte verzeichnet. Die Mittelmäßigen aber bleiben in der Schwebe bis zum Versöhnungstag. Tun sie Buße, machen sie ihre Untaten wieder gut, werden auch sie am Jom Kippur zum Leben eingetragen. Erst an jenem letzten Tag wird über sie entschieden. So beginnt mit Rosch Haschana für den Gläubigen eine Zeit der inneren Umkehr, der persönlichen Bilanz, aber auch der Rückschau auf das vergangene Jahr allgemein. Zentraler Gedanke der Hohen Feiertage ist: Ins Buch des Lebens, des Segens, des Friedens und guten Lebensunterhaltes mögen wir bedacht und eingeschrieben werden...
Weil hier die Geschicke der Menschen besiegelt werden, werden deshalb auch in der rabbinischen Literatur als jamim noraim - als furchterregende Tage ­– bezeichnet. Dazu werden herzergreifende Gebete vorgetragen: Wie ein Hirte seine Schafe / unter seinem Stab hindurchziehen läßt, so läßt Du uns vorüberziehen, / musterst uns einzeln - / jeden - / und zählst und wägst / und setzt jedem sein Ziel / und schreibst für jeden einen Urteilsspruch: / Am Neujahrstag wird es geschrieben, / und am Versöhnungstag besiegelt, / wieviele vergehen, wieviele entstehen, / wer leben und wer sterben wird, (…) wer sinkt und wer steigt, / wer reich und wer arm. / Aber Umkehr, / Gebet und Gerechtigkeit / wenden das Böse ab! – Hier wird auch das Schofar, ein Widderhorn, geblasen: Es erzeugt einen furchterregenden Klang, dem sich keiner der Beter entziehen kann.

Die häusliche Neujahrsfeier ist im Gegensatz zum Synagogengottesdienst wesentlich weniger auf Emotionen abgestimmt, sie ist eigentlich nicht viel mehr als ein gemeinsames Mahl der Familie, an dessen Anfang, neben dem für Feiertage und den Schabbat obligatorischen Weinsegnungsgebet, Kiddusch, lediglich einige kurze Segenssprüche stehen, die allerdings eine tiefe Symbolik haben: So wird das Brot, das – wie vor jeder Festmahlzeit – nach einem Segensspruch gebrochen und in der aschkenasischen Tradition mit Salz bestreut an jeden ausgegeben wird, am Neujahrstag eben nicht mit Salz bestreut, sondern in Honig getaucht, denn das Neue Jahr soll nicht versalzen, sondern süß wie Honig werden: Gelobt seist Du, / Ewiger, / unser Gott, / König der Welt, / der Du uns Leben und Erhaltung gegeben / und uns diese Zeit erreichen lassen.
Dann nimmt jeder der am Tisch sitzt, ein vorher von der Hausfrau geschältes Stück Apfel in die Hand und spricht: Möge es Dein Wille sein, / Ewiger, / unser Gott / und Gott unserer Väter, / uns ein glückliches und angenehmes Jahr zu erneuern.

Anschließend grüßen wir andere jüdische Menschen in aller Welt mit den Worten: Le shana towa tikatewu – Mögen Sie für ein gutes Jahr in das Buch des Lebens eingeschrieben werden!
Übrigens hat das jüdische Neujahrsfest in ganz anderer Form Eingang in den Berliner Jargon genommen: Wenn sich die Berliner zu Sylvester „Einen guten Rutsch!“ wünschen, war damit ursprünglich nicht gemeint, man möge auf einer Schneerutsche oder sonstwie vom alten in das neue Jahr hineinrutschen, sondern es wurde Bezug genommen auf Rosch Haschana. „Ein guter Rosch“ war der Ausruf, der umgangssprachlich zum „guten Rutsch“ wurde.
Jom Kippur. Alle Gelübde und Entsagungen, / alle Verbannungen und Strafen, / wie Zwänge und Unrecht… / sie sollen aufgelöst, ungültig, / vernichtet und aufgehoben sein. – Mit diesem Text beginnt der Vorabendgottesdienst des Versöhnungstages.

Entstanden ist er vor mehr als 1000 Jahren in Byzanz. Damals wüteten dort Judenverfolgungen, mit dem Ziel, Juden zwangsweise zu konvertieren. „Kol nidre“ heißt dieser Text in seiner aramäischen Urfassung – und „Kol nidre“ heißt auch der gesamte Vorabendgottesdienst des Versöhnungstages. Der emphatisch vom Vorbeter vorgetragene Text ist eigentlich kein Gebet. Eher eine Formel zur Auflösung erzwungener Gelübde, die das Ziel hatten, Juden zu christianisieren. In den fast 2000 Jahren der Judenverfolgungen und Ju­denmission hat sich das „Kol nidre“ eine traurige Aktualität bewahrt. Was für den gläubigen Juden heute dieser Text nicht mehr hergibt, das erzeugt die Melodie: das Gefühl, heute abend frei von allen gesellschaftlichen Zwängen auf das letzte Jahr und all das, was man getan oder unterlassen hat, zurückzublicken.
Jom Kippur ist ein alter Feiertag. Schon in der Bibel wird er erwähnt. Solange der Tempel in Jerusalem stand, richteten die Juden ihren Blick dorthin. Der Oberpriester betrat an diesem Tag den allerheiligsten Raum des Tempels. Nur ihm war das gestattet und auch nur an diesem einen Tag. In diesem Raum war der jüdischen Überlieferung nach die Allgegenwärtigkeit Gottes besonders erdnah. Weil keiner außer dem Oberpriester diesen Raum betreten darf, ist es noch heute gläubigen Juden verboten, die oberhalb der Klagemauer gelegenen Moscheen zu betreten, denn man könnte ja unversehens eben in das Allerheiligste geraten, von dem man nicht mehr weiß, wo es denn genau gelegen hat. Vor dem Betreten des Allerheiligsten legte der Oberpriester allen Schmuck ab und kleidete sich in ein schlichtes weißes Leinengewand. Dann legte er für alle Juden das Sündenbekenntnis ab. Heute noch ist es in einigen Synagogen üblich, dass Vorbeter und Rabbiner sich am Jom Kippur in weiße Talare kleiden,  Frauen in schlichten Kleidern und ohne Schmuck in die Synagoge kommen. Überall auf der Welt tragen die Juden auch am Vorabendgottesdienst ihren weißen Gebetsschal. Ausgedrückt wird mit dieser Uniformierung, dass alle Juden als Sünder vor Gott treten, ja, dass alle Menschen gleich sind.

Jom Kippur ist zu allen Zeiten der höchste jüdische Feiertag gewesen. Ein jüdischer Chronist aus Alexandria schrieb vor etwa 2000 Jahren über Juden, die vergleichsweise wenige jüdische Religionsvorschriften beachteten; aber auch sie wurden am Jom Kippur fromm, auch sie fasteten und verbrachten den Tag in der Synagoge. Auch heute noch gehen am Jom Kippur fast alle Juden beten, auch jene, die sonst selten oder nie den Weg in die Sabbatgottesdienste finden. Am Jom Kippur sind die Synagogen so voll, dass die berühmte Stecknadel nicht zu Boden fallen kann.

In einem zentralen Gebet heißt es: Umkehr, Gebet und Gerechtigkeit wenden das Böse ab. Diese drei Elemente des Versöhnungstages beinhalten das Programm des Tages: Gebet – die einzig zugelassene Tätigkeit für Juden an diesem höchsten Feiertag, neben dem sich Aussöhnen – also der Umkehr. Umkehr vom sündigen Leben – das ist der Blick in die Vergangenheit. Gerechtigkeit – das ist der Ausblick in die Zukunft.
Am Jom Kippur betet man in der Synagoge von frühmorgens bis der erste Stern am Abendhimmel sichtbar wird. Und dabei wird gefastet – mehr als 24 Stunden. Für den Gläubigen gibt es kein Entrinnen! Jom Kippur zwingt den gläubigen Juden, sich mit seinem Leben im vergangenen Jahr, ja mit seinem Leben überhaupt auseinanderzusetzen. (Doch sei angemerkt, dass sich in den Mittagsstunden die Reihen in der Synagoge lichten und erst zum Abschlussgebet die Synagoge wieder zum Überlaufen voll wird.)
Und dann wiederholt der Vorbeter vielleicht zum vierten oder fünften Mal an diesem langen Tag das Sündenbekenntnis, das die Gemeinde kollektiv ablegt und sich dabei an die Brust schlägt:
Gott und Gott unserer Väter, entziehe Dich nicht unserem Flehen. Wir haben gesündigt. Wir haben die Treue gebrochen. Wir haben in Übermut gehandelt. Wir haben Böses geredet. Wir haben uns durch Lügen entwürdigt. Wir haben gespottet. Wir haben in die Irre geleitet.
Am Ende erklingen noch einmal drei Schofartöne. Danach eilen die Beterinnen und Beter nach Hause, um das Fasten im Kreis der Familie zu brechen. In einigen Synagogen gibt es einen kleinen Imbiss, um auch dieses „Ausfasten“ gemeinsam im Kreis der Synagogengemeinde zu erleben.
Gemar Tow – Chatima towa, ein gutes Ende, eine gute Besiegelung des Eintrags in das Buch des Lebens wünscht man sich…

Neubeginn und Versöhnung