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Rolf und seine »Keule«

01.November 2007 | Beiträge – jüdisches berlin | Gedenken, Menschen

Die Brüder Rolf und Alfred Joseph waren Augenzeugen der Novemberpogrome 1938 und überlebten die NS-Zeit nur dank einer beherzten Berliner Lumpensammlerin. Von Judith Kessler

Die Josephs sind am Moritzplatz und im Wedding aufgewachsen ­– das hört man bis heute, wenn der 87-jährige Rolf über sich und seine „kleene Keule“, den ein Jahr jüngeren Bruder Alfred spricht.
Schon ihre Eltern und ein Teil der Großeltern waren gebürtige Berliner, bewusste Staatsbürger – der Vater Weltkriegsteilnehmer – und bewusste Juden. Und waren die Eltern auch religiös? „Ja, leider“, antwortet Rolf Joseph und erzählt, dass sich Alfred bis heute mit Wehmut daran erinnert, wie der Fleischer im Haus allen Bewohnern zu Weihnachten immer ein großes Paket mit Schweinefleisch und Wurst schenkte und Mutter Joseph dieses Paket – obgleich die Familie arm war, der Vater hatte alles Geld in der Inflation verloren – dann immer sofort weiterschenkte, weil der Inhalt eben nicht koscher war.
Die Brüder waren meist zusammen – bei „Habonim“ ebenso wie bei ihrer Lieblingsbeschäftigung im Fußballverein „Hagibor“. Doch seit 1933 schwänzte Rolf oft die Schule, weil sein Lehrer von nun an in SA-Uniform zum Unterricht erschien und den Juden Joseph bei jeder Gelegenheit schlimm verprügelte. Seiner Mutter gelang es mit viel Betteleien ihn bei einem „arischen“ Tischler unterzubringen, wo er mit Ach und Krach seine Tischlerlehre machen konnte, aber nicht verraten durfte, dass er Jude ist.
Wie jeden Tag fuhr Rolf Joseph am 10. November 1938 morgens mit dem Fahrrad quer durch die Stadt vom Wedding zur Berufschule am Ostbahnhof – diesmal vorbei an brennenden Synagogen und jüdischen Geschäften, deren Fensterscheiben beschmiert und zertrümmert worden waren. Überall plünderten die SA und das „Volk“ ungehindert diese Läden, so das große Juweliergeschäft Brandtmann ­­­– ­„da war uns klar, wenn das geht, dann geht alles“.
„Alfred und ich rannten weinend zu unserem Vater und flehten ihn an, mit uns wegzugehen aus Deutschland. Aber Vater war ein eingefleischter Deutscher. Er sagte: ‘Ich habe vier Jahre den Krieg mitgemacht, bin dreimal verwundet worden und hab das Eiserne Kreuz – uns tut man nichts‘. Aber das war ja nun nicht so…“.
Sie werden bald zur Zwangsarbeit verpflichtet – der Vater und Alfred im Gleisbau, Rolf bei IG Farben, zwölf Stunden am Tag. Später schuftet er zusammen mit 15 anderen jüdischen Jungs in einer Pankower Tischlerei, die Einrichtungen für die Wehrmacht herstellt. Im Juni 1942 müssen Rolf und Alfred dann tatenlos zusehen, wie wenige Meter von ihnen entfernt ihre Eltern abgeholt werden. Sie haben sie nie wieder gesehen. Beide kamen nach Theresienstadt und starben in Auschwitz.
Für die Brüder selbst endet mit dem Abtransport der Eltern das legale Leben. Sie tauchten unter, nur mit dem, was sie am Leib hatten, ohne Geld, Lebensmittelkarten oder Kontakte. Sie schlafen in Wäldern und Bahnhofstoiletten, bis sie Marie Burde treffen, eine wunderliche Lumpensammlerin mit einem großen Herzen. „Mieze“, wie sie genannt wurde, riskiert ihr Leben und versteckt die Brüder in ihrer Kellerwohnung.

Rolf Joseph (rechts) und „Keule“ Alfred. Foto: Wolfgang HaasRolf und Alfred Joseph. Foto: Wolfgang HaasBuchpräsentation: Berliner Schüler haben die Geschichte der Brüder Joseph aufgeschrieben. Foto: privat

Auch wenn sie völlig isoliert leben und aus Angst keinen Kontakt zu anderen „U-Booten“ aufnehmen, wird Rolf eines Tages von der Gestapo geschnappt. Weil er nicht verraten will, wo sein Bruder ist, wird er gefoltert und anschließend in die Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße gebracht. Er kann aus dem Waggon, der ihn nach Auschwitz bringen soll, fliehen, wird aber eingefangen und schafft es wieder zu fliehen, diesmal in dem er eine Krankheit simuliert und dann im Jüdischen Krankenhaus aus dem zweiten Stock springt. Rolf bricht sich zwar die Wirbelsäule an, schafft es aber noch zurück zu Mieze Burde in die Tegeler Straße. Sie versteckt die Jungs weiter und versorgt sie mit Essbarem, vor allem mit Kohlrüben („Nach dem Krieg habe ich nie wieder Kohlrüben gegessen, nie wieder!“).
Bruder Alfred wird bei einem „Ausflug“ kurz vor Kriegsende ebenfalls noch von der Gestapo erwischt, nach Sachsenhausen gebracht und auf den berüchtigten Todesmarsch geschickt. Wie durch ein Wunder überlebt er.
Die Brüder Joseph haben 60 Verwandte in der Schoa verloren – Mutter und Vater hatten je acht Geschwister. Außer einer jungen Frau, Lydia, die mit einem Cousin von ihnen verheiratet war, kam niemand von der ganzen großen Familie aus Auschwitz wieder. Rolf Joseph hat Lydia geheiratet. Sie waren 46 Jahre zusammen – bis sie bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kam.
Auch Alfred heiratete, wurde Vater einer Tochter und arbeitete bis zur Rente in der jüdischen Metzgerei. Rolf war 30 Jahre in einer Waggon- und Maschinenfabrik angestellt, wo „ich mich zum Abteilungsleiter hoch gearbeitet“ habe.
Und wie hat er seine heutige Lebensgefährtin Uschi kennen gelernt? „Ich war zu einer Bar Mizwa in der Synagoge Joachimstaler Straße eingeladen. Da war ich ja vorher noch nie, und aus Versehen hab ich mich in die Frauenabteilung gesetzt…“
Trotz aller Fürsorglichkeit in seiner Umgebung – vergessen kann Rolf seine Erlebnisse nicht. Bis heute dreht er sich auf der Straße ständig um, als würde er noch immer verfolgt werden. „Das ist wie ein Automatismus, das kann ich nicht mehr ablegen, das ist drin“. Und bis heute bekommt er epileptische Anfälle von den Schlägen auf den Kopf bei der Gestapo.
„Dass wir beide überlebt haben war keine Klugheit“, resümiert Rolf, „das war einfach nur Glück“. Die beiden Brüder haben soviel zusammen ertragen. Was hat er heute für ein Verhältnis zu seiner kleinen „Keule“? – „Alfred ist meine zweite Hälfte... Wenn ich Kopfschmerzen habe, hat er auch welche, und wenn er Gicht im Zeh bekommt, bekomme ich auch welche.“ Die Brüder telefonieren jeden Tag miteinander und sorgen sich umeinander – immerhin sind sie 87 und 86 Jahre alt.
„Ich bin der älteste Beter in der Pestalozzistraße“, meint Rolf. „Ich gehe jeden Freitag und jeden Schabbes hin, aus Dankbarkeit, dass ich überlebt habe.“ Rolf Joseph hat aber auch schon mal zwanzig muslimische Schülerinnen in die Synagoge mitgenommen und einiges Erstaunen damit geerntet. „Aber das macht mir nichts“, sagt er, „die Mädchen haben sich dafür interessiert“. Dafür, dass er seit zwanzig Jahren in die Berliner Schulen geht und Jugendlichen verständlich macht, was es bedeutet, verfolgt zu werden, wurde ihm 2002 das Bundesverdienstkreuz verliehen (wir haben darüber berichtet – „Überleben im Untergrund“, jb 11/2002). Auch Mieze hätte einen Orden verdient. „Aber leider ist sie uns weggestorben“, sagt Rolf Joseph, „heute würden nämlich wir für sie sorgen!“ Die Brüder haben das einzige getan, was sie noch tun konnten – sie haben auf der „Allee der Gerechten“ in Jad Vaschem einen Baum für ihre Lebensretterin gepflanzt.