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Tefilla, Zedaka und Tschuwa

01.September 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Feiertage

Gedanken zum Neuen Jahr und dem Gebet »Unetane Tokef«

»Schana towa« wünscht man sich gegenseitig, und auf vielen Karten, die vor Rosch Haschana eingehen, können wir »Happy New Year« lesen oder den Wunsch für eine »gute Einschreibung«. Wenn wir einander »Schana towa – ein gutes Jahr« wünschen, kann das der Wunsch für ein »angenehmes« oder »schönes« Jahr sein, es könnte aber auch gemeint sein, der Gegenüber solle »gut« sein, wie es dem Geist der Feiertage entspricht, denn Rosch Haschana ist ja nicht nur ein einfacher Wechsel der Jahre, sondern auch der »Jom Hadin«, der »Tag des Gerichts« und Auftakt zu den zehn Tagen der Rückschau und Bewertung dessen, was gewesen ist. Schließlich sollen wir uns auch bei Menschen entschuldigen, die wir verletzt haben.

Die »Einschreibung«, die wir uns gegenseitig wünschen, meint die »Einschreibung in das Buch des Lebens«, die auch immer wieder in den Gebeten der Hohen Feiertage widerhallt. Was bedeutet das? Wird an Rosch Haschana oder spätestens zu Jom Kippur über Leben und Tod entschieden? Wer lebt, kommt in das »Buch des Lebens«? Und was haben die getan, die nicht in das Buch des Lebens eingeschrieben werden?

Gehen wir den Hinweisen nach: Wir haben nur eine ungefähre Ahnung davon, was das »Sefer Hachajim – das Buch des Lebens« ist. Es begegnet uns zum ersten Mal im Zweiten Buch Mose (32,32) »Nun, wenn du ihre Sünde vergibst, wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast.« In den Tehillim begegnen wir ebenfalls der Idee, dass die »Gerechten« (69,29) in das Sefer Hachajim geschrieben werden. Was das bedeutet, erfahren wir zunächst aber nicht.

Wer den Machsor genauer kennt, wird sich an das Gebet »Unetane Tokef« erinnern. Es ist Bestandteil des Mussaf-Gebets. Dieses könnte der Schlüssel sein: »Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Tage der Versöhnung besiegelt, wie viele dahinscheiden und wie viele geboren werden, wer leben soll und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch den Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe, wer Rast findet und umherirrt, wer frei von Sorgen bleibt und wer voller Schmerzen, wer hoch und wer niedrig ist, wer reich und wer arm sein soll.«

Ist es das? Wer »gerecht« ist, der wird in das Buch des Lebens eingeschrieben? Was ist mit denen, die vom gerechten Weg abgewichen sind? Doch »Unetane Tokef« ist noch nicht beendet. Weiter heißt es dort: »Doch Rückkehr (Tschuwa), Gebet (Tefilla) und Zedaka wenden das böse Verhängnis ab.« Dies ist ein Zitat aus einem Midrasch (Bereschit Rabba 44,12): »Drei Dinge wenden das schlechte Urteil ab. Gebet, Zedaka und Tschuwa«.

Granatäpfel. Ölbild von Pavel Feinstein

Granatäpfel. Ölbild von Pavel Feinstein

Das widerspricht dem, was wir über die Welt wissen. Geliebte, gute, Menschen sterben, ganz gleich welchen Alters. Menschen, die im wahrsten Wortsinne »unschuldig« sind, sterben in Katastrophen. Jüngst starben in Norwegen über 70 Jugendliche. Es geht also um Katastrophen, die der Mensch selber verschuldet hat, aber auch um Naturkatastrophen. Etwa Vulkanausbrüche oder Erdbeben. Das sind Ereignisse, auf die der Mensch (noch?) keinen Einfluss nehmen kann. In einer gut vernetzten Welt wissen wir noch viel mehr über diese Ereignisse als noch vor wenigen Jahren. Tragödien werden scheinbar häufiger, einfach weil wir eher von ihnen erfahren. Dadurch wissen wir aber auch, dass Menschen einander furchtbare Dinge antun können. Gerade weil wir immer bestens informiert sind, wollen wir wissen, warum all dies passiert. Das kann zu einfachen oder vereinfachenden Erklärungsversuchen führen. Nicht selten braucht die Gesellschaft etwas oder jemanden, der als Verursacher auszumachen ist. Ist es also tatsächlich zu drastisch, ein moralisches Urteil über jemanden auszusprechen?

Der Talmud erklärt uns in Awoda Sarah (54b), dass »die Natur ihren eigenen Lauf« hat, den wir nicht ändern oder beeinflussen können. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Flugzeugabstürze oder Flutkatastrophen haben natürlich eine Ursache, aber die liegt nicht im Fehlverhalten eines Einzelnen oder einer Gruppe. Unsere Lebenserfahrung scheint also dem »Unetane Tokef« zu widersprechen. Deswegen können viele Menschen mit dem Gebet auch nicht so viel anfangen.

Aber »Unetane Tokef« widerspricht dem Talmud nicht. Denn man kann es auch als Aufzählung verstehen, die uns bewusst macht, dass es Bereiche im Leben gibt, auf die wir keinen Einfluss haben – wie eben die »Wasserflut« oder den »Krieg«. Wir können die Naturgesetze nicht ändern oder den freien Willen anderer Menschen. Übrigens war es Rabbiner Josef Albo (1380 – ca. 1444), der in seinen »Ikkarim«, den »Grundprinzipien«, feststellte, dass unsere Gebete in erster Linie uns ändern sollen und nicht G‘tt. Keine Magie. Die Kombination »Gebet, Zedaka und Tschuwa« kann nicht jeden Menschen vor den Naturgewalten schützen, aber eine Gesellschaft fördern, in der das »Leben« im Vordergrund steht. Alle drei im Zusammenspiel verändern denjenigen, der es tut und die Gesellschaft, in der er dies tut.

Die Tora wird die »Lehre des Lebens« genannt oder »Baum des Lebens«. Wir »ändern« das Urteil, wie es in »Unetane Tokef« heißt, indem wir unsere eigene Haltung dazu ändern. Wir verstehen eine Hungersnot also nicht als Bestrafung für unmoralisches Handeln, sondern als etwas, dass eine andere Ursache hat. Wenn wir der Lehre des Lebens nachfolgen, werden wir möglicherweise schon früher in die Lage versetzt, den »anderen« und seine Bedürfnisse zu erkennen. Am »Tag des Gerichts« können wir selber mit uns hart ins Gericht gehen und schauen, was wir dazu beigetragen haben, um eine »lebenswerte« Gesellschaft zu erschaffen und ob wir die auch anderen ermöglicht haben. Natürlich schließt das nicht aus, dass auch Gott unsere Leben beurteilt. Aber er ist dann auch nicht mehr der strafende Richter, sondern derjenige, der uns auf den Weg, der zum Leben führt, zurückschicken möchte. Erkennen wir, was wir falsch gemacht haben, können wir es ändern für ein »Schana towa – ein gutes Jahr«.

Chajm Guski