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Verwundbare Götter aus Schellack
01.Dezember 2011 | Beiträge – jüdisches berlin | Kultur
Osteuropäische Juden in der Unterhaltungskultur des Weimarer Berlin
Die rasante Entwicklung Berlins zur Großstadt prägte besonders in der Weimarer Republik einen kulturellen Wandel und griff tief in das Bewusstsein der dort lebenden Menschen ein, die gemeinsam mit Migranten aus Osteuropa und Russland großstädtische Milieus bildeten. In den berühmten Berliner Zwanziger Jahren entstand eine Gesellschaft, die sich einerseits aus Furcht vor politischen Unsicherheiten betäubte und andererseits halb betäubt die politische und gesellschaftliche Liberalität feierte. Neue Vervielfältigungs- und Aufnahmetechniken der Film- und Schallplattenindustrie bedienten die gewaltige Nachfrage der Berliner nach Kintopp, Live-Tanzmusik in Cafés und Jazz-Rhythmen in Nachtclubs. Unterhaltungskünstler, unter ihnen viele osteuropäische Juden, verarbeiteten vor Ort den Zeitgeist und standen im Mittelpunkt neuer Kunstformen.
Die Existenz der Migranten beschränkte sich in vielen Fällen auf das Scheunenviertel und auf verstreut liegende Wohnsitze ohne nennenswerte Einmischung in das unterhaltungskulturelle Großstadtleben, das zu jener Zeit besonders heftig in den Berliner Nächten pulsierte. Und doch gab es viele – heute fast vergessene – Künstler, deren Talent und Individualität groß genug war, dass sie sich in der Masse der Künstler behaupten konnten und ein wichtiger Teil des kulturellen Milieus wurden:
Osteuropäisch-jüdische Stars arbeiteten als Bühnen- und Filmschauspieler wie Alexander Granach, Wladimir Sokoloff und Maria Orska (Effi Rahel Blindermann). Sie komponierten wie Mischa Spoliansky mit einer ungeheuren Produktivität für glitzernde Revuen und für Refrainsänger wie Leo Monosson, die mit dem Tanzorchester und auf der Kleinkunstbühne ihre anspielungsreichen und tagesaktuellen Chansons interpretierten. Zu den innovativen Künstlern gehörten auch die Bühnenbildner Jacques Rotmil und Ernst Julian Stern, der in Berlin für Max Reinhardt arbeitete, und Filmtechniker wie Eugen Schüfftan und Samuel (Billy) Wilder.
Aber Migranten waren sie alle, fremd im schnelllebigen Berlin, das nur wenig Raum für Vertrautes ließ. Für sie konstruierte Berlin eine neue Identität: Hier war der Ort, der alle technischen Möglichkeiten bot, um ihre Talente und Stile auszuleben; dieser war damit unmittelbar mit ihrer Karriere verknüpft.
Erfolg vor dem Publikum hatte aber nicht jeder Talentierte; besonders Migranten mussten sich dafür stark dem Berliner Stil, der Sprache und dem Publikum anpassen, weshalb die Großstadt oft entscheidend mit ihrer Karriere verknüpft war und für viele Künstler zum dauerhaften Lebensraum wurde.
Harte Arbeitsbedingungen bestimmten den Alltag der Künstler. Nur wenige erwirtschafteten für die Schallplattenfirmen und Agenturen hohe Gewinne, für die sie mit enormen Einnahmen vergütet wurden; konträr dazu verarmten viele Künstler ohne Engagements. Erfolgreich waren nur die, die sich dem innovativen Berliner Zeitgeist anpassten, flexibel und belastbar waren und die Kunst beherrschten, harte professionelle Arbeit als ›leichte Musik‹ bis in die frühen Morgenstunden auf der Bühne zu präsentieren. Diese Fähigkeit erlernten viele Musiker erst in Berlin.
Wie Leon Golzmann (Dajos Béla, 1897 in Kiew geboren) und Efim Schachmeister, zwei der erfolgreichsten Tanzkapellenleiter Berlins, hatten jüdische Musiker am Moskauer oder Petersburger Konservatorium studiert und waren zur weiteren Ausbildung am Stern’schen Konservatorium nach Berlin gekommen, wo sie Lebensunterhalt und Studium selbst finanzieren mussten. So tauchten sie ein in die Berliner Szene mit ihren Künstlercafés und berüchtigten Nachtclubs wie dem Barberina/Ambassadeur, dem Moka Efti, dem Kakadu oder El Dorado.
Die Tanzorchester und Jazzcombos spielten im Hotel Excelsior und im Adlon, im Dachgarten von Karstadt, in den Cafés Berlin, Barberina und Delphi eine furiose Mischung aus Hot und Slow Foxtrott, Shimmie-Blues, Walzer, russischen Romanzen, Tango und einen präzisen Jazz, der oft von amerikanischen Musikern beeinflusst war. Golzmann, der den Erfolg seiner umjubelten Interpretationen und den aus seinen Plattenaufnahmen resultierenden Wohlstand genoss, war einer der erfolgreichsten Kapellenleiter Berlins. Er fuhr stadtbekannte Cabriolets, für die er 1931 in Berlin den Führerschein gemacht hatte und ließ sich dauerhaft in Berlin nieder.
Ebenso begabt war der 1897 in Moskau geborene Leon Monosson, der 1918 aus Russland geflüchtet war und sich ab 1923 in Berlin gesanglich ausbilden ließ. Auf über 1400 Plattenaufnahmen interpretierte er Lieder in bis zu zehn Sprachen und war häufig im Film, Rundfunk und auf Kabarettbühnen zu hören. Auch die Russin Dela Lipinskaja trat mit russisch-, jiddisch- und deutschsprachigen Chansonprogrammen in Kabaretts und nach 1933 beim Jüdischen Kulturbund auf. Wie viele ihrer Landsleute unterhielt die Lipinskaja enge berufliche und private Beziehungen zu deutschen Juden und in Berlin geborenen Künstlern und korrespondierte mit Kurt Tucholsky und Erich Kästner. Beide schrieben für sie Texte und Chansons, die sie in ihrem Programm zusammen mit russischen und jiddischen Volksliedern sang und spielte. An Lipinskaja zeigte sich nicht nur die Vielfalt und Integrationsfähigkeit der Berliner Unterhaltungskultur, sondern auch das Potenzial osteuropäischer Künstler, in Berlin unterschiedliche kulturelle Einflüsse verarbeiten und diese Mischung einer großen kritischen Öffentlichkeit schmackhaft machen zu können.
Die ungeheure Popularität solcher Musiker und Orchester wie die von Golzmann, Schachmeister und Baskind ließen nicht nur den Musikanteil im Rundfunk, sondern auch die Verbreitung von Schallplatten rasant ansteigen; über Schallplattenfirmen wie die Deutsche Grammophon AG, Odeon und Elektrola entstand ein komplexer Markt, der durch Fachmagazine und die Berliner Feuilletons transportiert wurde.
1933 endete diese Ära abrupt. Die Verordnungen des Reichskulturkammergesetzes, nach denen jeder Kulturschaffende Mitglied einer Kammer sein musste, führten zur sofortigen Ausschaltung der Juden. Erzwungene Vertragsabbrüche und Entlassungen aus laufenden Engagements stoppten die Einnahmen; Komponisten, die ihre Werke durch die AMMRE abgesichert hatten, verloren alle Rechte und Tantiemen. Musiker wie Leon Golzmann, der im Februar 1933 von NSDAP-Anhängern während eines Auftritts im Excelsior bedroht wurde, gerieten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und weil sie Jazz spielten besonders schnell in die Schusslinie der Nationalsozialisten und verloren auf einen Schlag ihre Lebensgrundlage, so dass nur der Weg in das Exil blieb.
Künstlern wie Monosson und Golzmann, die sich ganz dem Berliner Geschmack und der Café-Live-Musik angepasst und davon profitiert hatten, fiel es schwer, im neuen Exil ihre Existenz zu sichern. Im Ausland zeigte sich oft, dass sie beim Publikum nicht mehr ankamen. Leon Monosson begründete dies in seinem Entschädigungsantrag so: »Meine Vortragsart und meine künstlerische Persönlichkeit waren durch deutsche Kultur und Geschmack entwickelt und woanders vollständig fremd und unpopulär.« Die NS-Machtübernahme hat langfristig die Existenzgrundlage vieler osteuropäisch-jüdischer Künstler und – durch die Vernichtung der Tonmatrizen und Kompositionen – oft ganze Lebenswerke zerstört und die Erinnerung an sie beinahe ausgelöscht, obwohl sie die Zwanziger Jahre in Berlin entscheidend mitgeprägt hatten.
Juliane Michael
_Der Beitrag ist Teil des laufenden Dissertationsvorhabens über die Lebens- und Arbeitssituation osteuropäisch-jüdischer Unterhaltungskünstler im Weimarer Berlin, das im Rahmen des Projektes »Charlottengrad und Scheunenviertel. Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre« (Prof. Dr. Gertrud Pickhan, Osteuropa-Institut, FU) initiiert wurde.
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